Montag, 3. Dezember 2012

Kapitel 1, Routine

Ich sitze – wie so oft – auf meiner Bank. Sie ist kalt, aus grauem Beton und ihre Bretter sind nichts weiter als Fragmente einer vergangenen Zeit, zerborsten und beschmiert. Von hier betrachte ich die Menschen, wie sie vorübergehen, mal lachen oder weinen und stets ihrem Leben folgen. Ich frage mich, ob auch sie das Gefühl warmer Tränen kennen, die an ihren Wangen herunterlaufen und im Begriff sind, ihr erst Sekunden altes Lächeln zu verzerren? Ich frage mich, ob auch sie die Blätter im Wind tanzen sehen? Haben sie sich ihr Leben so vorgestellt?

Ich habe ein Date – heute Abend um 20 Uhr – im Irish Pub „Whistle“, nicht weit von hier. Ich mag diesen Laden nicht. Er ist dreckig und zu nah. Doch sie schlug ihn vor.

Regel 1: Das Date hat stets die freie Wahl der Location! Wohin es auch will, füg dich voller Vorfreude! – Wuhuuu – 

So stimmte ich ihrem Wunsch mit trainiertem Lächeln zu. Die Zeit vergeht schnell. Nur noch eine halbe Stunde bis acht… Ich bin so aufgeregt wie ein Huhn in der Schlachtanlage. Als würde auch ich in dieses wundervolle, beruhigend blaue Licht sehen, bevor ich Meter für Meter meinem Ende näher komme. Es ist zu spät, erneut über alles nachzudenken, sie ist da – ungewöhnlich früh. Sie trägt einen karminroten Mantel, geht aufrecht, wenn auch hektisch. Noch 15 Minuten und ich folge ihr. Ob auch sie die Blätter tanzen sieht? 

Ich bin unentspannt, seltsam. Los geht‘s Richtung „Happy End…!“, die Eingangstür aus Eiche rustikal stets im Blick. Ich greife mir noch einmal tief ins Haar, schaue an mir hinunter, ob auch alles sitzt, atme durch, schalte auf fröhlich und öffne die Tür und gehe hinein.
– Routine – 

Der Pub ist tatsächlich noch dreckiger, als ich ihn in Erinnerung habe. Der Boden ist versifft und bei jedem Schritt fühlt es sich an, als würden meine Sohlen klebrige Fäden von ihm ziehen. Rauch erdrückt den Raum und verleiht den Wänden mit ihren unzähligen Bildern vergangener Sportikonen und Böden alter Guinnesfässer einen Charme, wie ihn sonst nur Hollywood produziert. Mein Date wartet am Ende des linken Flügels an einem runden, angesengten Naturholztisch. Er ist nicht mehr der frischeste. Sie scheint aufgeregt, lächelt mir aber verhalten zu und begrüßt mich mit den Worten: „Du bist früh“. „Du früher“, antworte ich leise und setze mich.

Regel 2: Halte etwas Abstand, lass ihr Raum und enge sie nicht ein. Setze dich aber auch nicht an den Arsch der Welt. Das Gefühl, dass sie dich anwidern könnte, sollte sie zu keinem Zeitpunkt bekommen. Noch wichtiger ist, dass du ihr verdammt noch mal in die Augen schaust! Denn Titten bekommst du in jedem zweitklassigen Drecksladen zu deinen Frühstücksflocken dazu. Aber Augen, Blicke, die jedes Wort von deinen Lippen saugen und nach deiner Seele greifen, machen ein Date!

Ich lasse ihr ein paar Sekunden, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Ihre Schüchternheit gefällt mir. Aber nach einer Flasche Wein, ein paar netten Worten und einem unaufdringlichem Lächeln meinerseits scheint dieser Wall durchbrochen. Der Tanz beginnt.

Sie erzählt mir von ihrem Verlobten, einem Lehrer. Eine Geschichte folgt der anderen. Mit ihren Worten scheint auch ihre Seele in die Freiheit zu dringen. Es ist faszinierend und doch traurig zugleich, wie sehr sich diese Geschichten ähneln. – Urlaub an einem Sonnenstrand… Paris bei Nacht… oder witzige Shoppingausflüge mit unerwarteten Ereignissen.... Den Abschluss bildet jedoch meist so etwas wie: „Es war so schön mit ihm... Er ist der tollste Mann auf Erden…" Es ist bitter! Sie weint und nimmt mit zittriger Stimme ein weiteres Mal Abschied: „Er ist letzten Sommer bei einem Autounfall gestorben…" Es gibt Situationen, in denen ist nichts zu sagen ebenso falsch wie Beileid. Also nehme ich ihre Hand und fordere sie zum Tanz auf. Ein „Nein“ wird nicht akzeptiert und ja, der Laden ist nicht plötzlich generalgereinigt worden und auch die Tanzfläche ist ebenso versifft wie der Rest, doch wer kann schon den fröhlichen Klängen der irischen Folklore widerstehen? Und so beginnt auch sie sich – wenn auch etwas steif – der Musik zu öffnen. Wir tanzen. Schritt für Schritt verschwinden ihre Tränen. Drehung um Drehung schließt das Leben wieder seine Arme um sie. Sie lacht und was bleibt sind feucht glänzende, aber wunderschöne tiefgrüne Augen.

Regel 3: Nimm es als ein mystisches Naturgesetz, aber Frauen lieben es zu tanzen. Also steh auf – Step 1-2-3 – und beweg die Hüften. Ob du gut oder schlecht tanzt, ist egal. Wichtig ist nur, dass du tanzt!

Es vergehen ein paar Stunden im Pub, bis wir bei ihr landen. Sie hat eine nette Wohnung, nicht die größte aber schön. Überall hängen Bilder eines Mannes, wahrscheinlich ihr Verlobter, attraktiv. Ein wenig Kleidung liegt herum und grüne Vorhänge mit schwarzen, senkrechten Streifen verdecken Raum für Raum den Blick in die Welt. Ist das ihre Form zu trauern? Hektisch führt sie mich ins Schlafzimmer und verschwindet selbst ins Bad. Das ist mein Stichwort. Es wird höchste Zeit, die Gummis aus meinem Sakko zu nehmen und unter einem Kissen zu verstecken.

Regel 4: Ob es zum Sex kommt, obliegt einzig ihr. Doch die große Gummisuche ist der totale Abturner. Also spiel den Fesselkünstler und verpack deinen Freund so schnell, wie es nur Superman könnte und so stilvoll wie James Bond. 

Überall stehen Kerzen. Ein paar davon zünde ich an. Nächster Schritt: Musik! Also auf zur Anlage und ihren CDs. Was sie wohl gerne hört? Tatsächlich ist von Abba, über Klassik bis Rammstein und alten Backstreetboys-Alben alles dabei. Mir fallen jedoch die Crows auf. Ihre Musik ist so melancholisch schön, doch hier unangebracht. Ich lege also eine von mir mitgebrachte CD ein, Bob Dylan. Wenn sonst nichts passt, ist Dylan stets die Lösung! Like a rolling stone lässt er den Abend laufen. Nun heißt es zu warten. Wieder vergehen ein paar Minuten, bis sie endlich in der Tür steht. – Fantastisch! – Auf Wäsche hat sie verzichtet. Ihr wundervoll blasser Körper wird nur von ihrem dunklen, langen und glatten Haar bedeckt. Ihre Brüste sind straff, nicht zu groß. Sie ist schlank, hat kaum Makel, nur ein paar Falten. Mir wäre es egal, doch sie ist wirklich wunderschön, so unglaublich schön. Trotzdem ist ihre Zerbrechlichkeit nicht zu übersehen. Sie wirkt, als könnte jeder falsche Blick, jede unvorsichtige Geste ihr den letzten Mut zu leben rauben. Vor mir muss sie keine Angst haben. Lächelnd stehe ich auf und gehe zu ihr, nehme ihre Hand und führe sie zum Bett. Sie verkrampft und so beginnt ein riskantes Spiel. Ich setze mich also hinter sie, atme ihr sanft in den Nacken, streichle ihre Schultern und sage nichts. Ich versuche ihr nur das zu geben, worauf sie nun schon seit so langer Zeit verzichtet hat. Geborgenheit…

Sie liebt ihren Verlobten noch sehr, doch für ein paar Stunden lässt sie mich an seine Stelle treten und ihre Leere füllen. Für mich ist es leider nur die immer selbe Routine und wieder verliere ich ein Stück meiner selbst. Das blaue Verderben, das blaue Licht zieht mich an. Nach ein paar Stunden bezahlt sie mich, gibt mir einen Abschiedskuss und bittet mich mit ihren feuchten Augen und zitternder Stimme zu gehen. Ich glaube schon, dass auch sie die Blätter tanzen sieht...
und fallen......
.......
.

6 Kommentare:

  1. Oh.

    wow wow wow.

    Bleib dran, das ist genial. ♥

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  2. irgendwie ist das die art von traurigkeit, die gleichzeitig eiskalt und doch so schön über den rücken fließt. sehr schön.

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  3. Wow! Großartiger Schreibstil, super Story, mehr davon!

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  4. Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut ! Mach weiter so

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  5. Wunderschön geschrieben.. ehrlich! :)

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